Gründereuphorie

Am Beginn stand die Vision einiger mutiger Industrieller. Der Bedarf an Baumwolle war im 19. Jahrhundert weltweit rasant angestiegen. In Deutschland waren Baumwollgarne zuvor traditionell vor allem aus England und der Schweiz importiert worden, Rohware wurde seinerzeit zumeist aus den Vereinigten Staaten aber auch aus Ägypten bezogen. Ein Abflauen des Bedarfs war nicht in Sicht, eher im Gegenteil. Die Löhne in Deutschland waren niedrig, die Arbeitszeiten länger als in Großbritannien, Einfuhrzölle für gröbere Garne waren hoch. Es war ein günstiger Zeitpunkt für die Vision, eine der größten Spinnereien Europas zu bauen.

Am 21. Juni 1884 erfolgte der Eintrag der Leipziger Baumwollspinnerei als Aktiengesellschaft in das Handelsregister. Von Dr. Karl Heine, der das Sumpfland im Leipziger Westen urbar gemacht hatte, erwarb man ein Grundstück inmitten der noch jungen Arbeiterquartiere, zum günstigen Preis von 2,10 Mark für den Quadratmeter mit direktem Anschlussgleis, Telefonverbindung und gesichertem Zu- und Abwasser. Für die Leitung des Vorhabens wurde der aus Zürich stammende Johann Morf engagiert. Noch im selben Jahr wurde die 1. Spinnerei errichtet (die heutige Halle 20) und die Arbeit mit fünf Spinnstühlen aufgenommen. Im März des nächsten Jahres lief die Produktion mit 30.000 Selfaktorspindeln und dazugehörigem Vorwerk bereits auf vollen Touren.

Und es wurde weitergebaut. Das erste Wohnhaus für Arbeiter in der Thüringer Straße entstand, das Verwaltungsgebäude in der Alten Salzstraße folgte, 1888 die 2. Spinnerei (heute Halle 18) mit 50.000 Spindeln, im Jahr darauf die 3. Spinnerei (heute Halle 14) mit 76.000 Spindeln und Kämmmaschinen nun auch für hochwertige gekämmte und feine Garne. Mitte der 1890er Jahre wurde ein viertes Produktionsgebäude (heute Halle 6) mit zwei Produktionssälen und einer weiteren Kämmerei gebaut, 1907 folgte ein fünftes (die heutige Halle 7) mit 26.000 Spindeln vor allem für Nähfadengarne. Außerdem wuchs die Anzahl der Arbeiterwohnhäuser.

Die Entwicklungen waren aber nicht nur auf Wachstum, sondern auch auf Nachhaltigkeit ausgerichtet. Die Spinnerei war in jeder Hinsicht ein Ort der Moderne. 1894 etwa wurde eine Spinnereischule eingerichtet, im Jahr darauf die Betriebsfeuerwehr gegründet mit drei Löschzügen zu je 100 Mann, eine Werkskantine bot Waren zum Selbstkostenpreis an. Seit dieser Zeit wurde auch in der elektrischen Zentrale Strom erzeugt, dadurch konnten beispielsweise die bisher verwendeten offenen Gaslampen gegen elektrische Bogenlampen ausgetauscht werden. Kurz vor der Jahrhundertwende wurde eine Badeanstalt gebaut, neue Arbeiterhäuser entstanden, ein Kindergarten wurde ebenso eingerichtet wie ein Park mit Turnhalle für Eltern und Kinder. Musikkapellen, Tanzgruppen, Männerchöre waren Teil des betrieblichen Lebens. Das Areal war eine Stadt in der Stadt geworden mit Wohnungen, Schrebergartensiedlung, Kindergarten, Ärzten. Außerhalb des Geländes, aber in seiner unmittelbaren Nähe, waren Geschäfte und Lokale entstanden.

Bei solch einem Wachstum war der Bedarf an Facharbeitern hoch. Von Anfang an gehörte die Frage nach geeigneten Arbeitskräften zu den größten Problemen. Für die harte Fabrikarbeit mussten nicht nur viele, sondern noch dazu besonders kompetente Leute gefunden werden. Man holte sie aus den klassischen europäischen Textilorten in Sachsen, Bayern, dem Erzgebirge, Württemberg, aus Polen und Tschechien, aus Österreich und der Schweiz. Ein vielsprachiges Völkergemisch mit all seiner Energie, die Chronik der Spinnerei berichtet aber auch von den Konflikten und Raufereien.

Im Jahr 1902 überstieg der Jahresumsatz bereits die 10-Millionen-Schwelle, die Aktionäre erhielten eine Dividende von 14 Prozent. Die Verdienste der Arbeiter aber standen in keinem Verhältnis zur damaligen Prosperität des Unternehmens und zu den harten Arbeitsbedingungen. Der Kampf um die Herabsetzung der täglichen Arbeitszeit auf zehn Stunden begann und mit ihm hielten die Ideen des Sozialismus Einzug. So sprach etwa Karl Liebknecht am 12. Februar 1905 im Felsenkeller im benachbarten Plagwitz vor über 2.500 Arbeitern.

Doch waren die sozialen Kämpfe nicht das Ende des Booms. Die Produktivitätssteigerung blieb beachtlich. 1887 verarbeiteten 318 Arbeiter und Arbeiterinnen in einer wöchentlichen Arbeitszeit von bis zu 77 Stunden insgesamt 6.200 Ballen Baumwolle zu mehr als 1 Mio. Kilogramm Garn. Nur zwanzig Jahre später wurden 20.000 Ballen Baumwolle von 1.600 Arbeitern an täglich zehn Stunden zu 5 Mio. Kilogramm Garn verarbeitet. Nach nur 25 Jahren hatte sich die Leipziger Baumwollspinnerei zur größten Spinnerei des Kontinents entwickelt, in der 240.000 Spindeln, 20.000 Zwirnspindeln und 208 Kämmmaschinen rotierten.

Text// Karoline Mueller-Stahl

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